|
Erläuterungen zum Bild „Wenn ich stark bin“
34,5 x 55,5 cm 7.11.1994
In
den Jahren nach 1990 war ich oft auf Floh- und Antikmärkten, vor allem in
Rheinhessen, in der Untermain-Ebene und im Rheingau. Vor dem Möbelhaus
Mann-Mobilia in der Äppelallee in Wiesbaden stieß ich inmitten des
Flohmarktbetriebs unverhofft auf einen kleinen weißen Tisch, auf dem neben
allerlei Nippes ein Dolch glänzend in der Sonne lag, von dem der polnische
Aussteller nur wusste, dass er „sehr teuer“ und „afrikanisch“ sei. Ich war von
der Schönheit des Geräts offensichtlich so überwältigt (vermutlich ist es
Duchamp ähnlich ergangen, als er 1914 in Paris im Bazar de l'Hotel de Ville den
eisernen Flaschentrockner erspähte), dass der Anbieter, der meine
unprofessionelle (weil verräterische) Begeisterung bemerkt hatte, keine Mark
Preisnachlass zugestand. Ich drehte auf dem Markt einige Runden, möglichst den
Stand im Auge, mit etlichen Herzstichen, wenn andere den Dolch begutachteten.
Der Pole wickelte den Dolch bereits in Papier ein, als er mich ein 2.Mal kommen
sah, schüttelte den Kopf, als ich versuchte, mit einem Pokerface wie Robert
Duvall den Preis nochmals zu drücken, und dann war der Dolch in meinem Besitz.
Ich
erzählte K. D. Schmidt, einem meiner Diplomanden aus Darmstadt, der mit dem
Kunstschmied Schorsch Wolf in Otzberg (Odenwald) befreundet war, von meinem
Erwerb und erhielt einen ersten Literaturhinweis über Name, Machart und
Herkunft des Geräts: „Der markanteste Dolch Indiens ist der Katar (Khutar)
aus der Zeit der Mogulenherrschaft im 16. bis 18. Jahrhundert“. „Katar oder
Khutar mit zweiseitig geschliffener Klinge in Dreieckform. Stahlgriff und
Klinge sind aus einem Stück geschmiedet. Der Stahlgriff hat zwei
parallellaufende Hebelarme, die durch zwei Querbalken verbunden sind...Indien…“
(Z. FAKTOR, M. BOUZEK: Messer und Dolche.- 280 S (S. 40 und Text zu Abb. 207); (Dausien)
Hanau 1991). Weniger ausführlich ist die BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE 1970: „Khuttar,
Kuttar, die älteste Dolchwaffe der Hindus (selten der Muslime) in Indien,
mit kurzer dreikantiger Klinge und leiterförmigem Griff, dessen Querstangen von
oben her umfasst werden.“
Im
Spätherbst 1994 war ich in eine Sackgasse geraten. Nach dem Auszug aus der
Wohnung meiner Familie (30.6.1986), dem Tod meines Vaters (12.1.1992) und
meiner Mutter (17.6.1993), der Trennung von Laura (18.6.1991; s. Bild „Die
Reise nach Palermo“) und von Marietta
(9.7.1994; s. Bild „Wendekreis des Steinbocks“) befand ich mich -- abgesehen
von der beruflichen Situation -- in einer sozialen Isolation, die dringend
einer Reparatur bedurfte. Umgeben von einer krebsartig wuchernden fun society, an der ich nicht teilzuhaben
gedachte, und dadurch einer ausgrenzenden, abweisenden und aggressiven
Gegenwelt ausgesetzt (in dem hier besprochenen Materialbild dargestellt durch
die allseitig angebrachten, mit den Zähnen nach innen weisenden Sägeblättern),
blieben außer der werktäglichen Universitätstätigkeit nur Haushalt, Wandern,
Gartenarbeit, Bildermachen und eine sich selbst bestärkende
„Du-wirst-es-schon-schaffen“-Mentalität, die ihren vorläufigen Höhepunkt in dem
Bild mit dem Katar erreichte, der ( wie vermutlich viele Waffen) den Eindruck
vermittelt, er könne dem Besitze besondere Kräfte verleihen, besonders dann, wenn die Kinder nie Zeit haben und die Freunde immer verheiratet sind..
In
diesem Glauben bestärkt wurde ich durch den Kauf eines zweiten Katars auf dem
Antikmarkt im Adler-Center in Wiesbaden-Biebrich am 14.4.1996. Der Händler, der
eine Sammlung alter Waffen anbot, erzählte mir, es handele sich um einen
„Tigerdolch“, der in Indien im Nahkampf gegen die Raubtiere eingesetzt würde.
Dieser Katar besteht aus Wutzstahl, „in der Antike bekannter, indischer
Hartstahl mit >natürlicher Damaszierung<“ (BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE 1974)
und hat eine mit Kreisen und Vierecken gemusterte, rotem Samt und goldfarbenem
Stoff überzogene und mit einer „goldenen“ geflochtenen Litze verzierte
Holzscheide. Der gesamte Dolch war einst vergoldet, Reste davon sind in
etlichen Vertiefungen erhalten, und auch die Damaszierung ist deutlich
erkennbar. Der „Tigerdolch“ liegt auf dem Bücherregal im Flur und bewacht den
Eingang, während der Dolch auf dem linken Seitenflügel des Altarbilds „Das
Jüngste Gericht“ (zur Zeit in meinem „Museum“, einer ehemaligen zweiten Küche
in meiner Wohnung) mich seit 16 Jahren bestärkt, auf dem Terrain Materialbilder
weiter zu kämpfen: „ Ich hatte mir dieses wichtige Land gleichsam aufgehoben
und abgesondert, um mich im Falle der Not, was auch jetzt geschehen, dahin zu
flüchten“ (Goethe in einem Brief an K.
L. Knebel, Übersetzer und Poet (1744-1834).- In R. DOBEL (Hrsg.): Lexikon der
Goethe Zitate.- 660 S., Zitat 99, 50-53; (Weltbild) Augsburg 1991).
|