Erläuterungen zum Bild „Santiago: Dein verbrannter Mund“

   65 x 135 cm     31.1.1990

Das Bild, zunächst als Selbstbildnis gedacht, bildet die Mitte der 7er-Gruppe „Santiago“. Mit dem Doppelrahmen ist es als „Kartusche“ so schwer, dass es in meinem Wohnzimmer nicht an der Wand hängt, sondern nur angelehnt werden kann. Die senkrecht angebrachte Bohle mit dem eisernen „Auge“ und dem aufgesperrten, schwarzverkohlten „Mund“ fand ich am 10.10.1987 als Strandgut am Rheinufer zwischen Ingelheim-Nord und Bingen-Kempten während eines Ausflugs mit Bo. Es stand 2 Jahre als „Skulptur“ neben einem Bücherregal, bis ich es im Januar 1990 für das Bild verwendete.

Der Name „Santiago“ ist der Kurzgeschichte „Der alte Mann und das Meer“ entnommen (E. HEMINGWAY.- tb 328, 121 S. (Rowohlt) Hamburg 1959) und wurde in der Zeit nach der Trennung von Bo ausgewählt. Es handelt sich, wie vermutlich vielen bekannt, um einen Fischer, der, nachdem sein bisher größter Fang, ein Schwertfisch, auf der Rückkehr zum Hafen von Haien aufgefressen wurde, sich doch wieder dazu entschließt, zum Fischfang aufs Meer zu segeln. Ich war damals der Meinung: „Glück ist etwas, das in vielen Formen vorkommt, und wer kann es erkennen? Ich würde jedoch etwas in jeder Form annehmen und bezahlen, was man von mir verlangt“ (E. Hemingway, S 112), ein Denkfehler, wie sich 1989/90 herausstellte. Ich hatte lange geschwankt, den Titel „salao“ zu verwenden, denn man konnte, auf mich bezogen, nach der Niederlage wohl eher vermuten, „dass der alte Mann jetzt für immer salao sei, was die schlimmste Form von Pech haben ist“ (HEMINGWAY, S. 7), entschied mich aber doch dann für das hoffnungsvollere Wort „Santiago“, angedeutet durch 2 zunächst angebrachte goldfarbene Blinker am unteren Ende der Bohlenstücks, die ich später durch 5 große Fischhaken ersetzte. Diese und auch die die Bohle umrahmenden und bedeckenden, aber an einigen Stellen auseinander gerissenen Eisenbänder, Fundstücke aus rheinhessischen Deponien, sollten die damalige, mich im Winter 1990 belebende Aufbruch-Stimmung deutlich machen.

Der erweiterte Titel „Dein verbrannter Mund“ ergänzt die Darstellung einer mir eigenen Grundhaltung zu erneutem Aufbruch nach einer Niederlage durch eine seit der Jugend bewahrte zweite, nämlich die der Auflehnung gegen als ungerecht oder falsch empfundene, mich benutzende, bedrängende oder einengende Handlungen anderer, die mir den Eindruck vermitteln, ich sei „Wasserträger“, „Claqueur“ oder „Gefangener“. Ich erinnere mich an eine meiner ersten Revolten etwa 1950. Ich warf einem Mathematiklehrer meine nur mit „gut“ bewertete Klassenarbeit an den Kopf, weil die Arbeit des vor mir sitzenden Mitschülers bei gleichem Fehler mit „sehr gut“ benotet war. Alle denkwürdigen Aufsässigkeiten gegen herrschende Systeme, sei es in Wissenschaft, Religion, Politik, Familie, Kunst oder -- wie im vorliegenden Falle -- die bedrängende Freundschaft, die mehr als Machbares forderte, hier aufzuführen, ist nicht genug Platz und nicht das geeignete Forum, allerdings kann behauptet werden, dass sie mein Leben maßgeblich beeinflusst haben.

Eine Deutung für derartiges Verhalten fand eine sehr problematische ältere Sekretärin, mit der ich etwa 1976 als damaliger Direktor des Instituts für Physische Geographie an der Universität Frankfurt Auseinandersetzungen hatte. Nachdem wir bei heftigen Diskussionen über Verwaltung irgendwie auf das völlig abwegige Thema Vorfahren abgeschweift waren, rief sie auf meine Antwort, mein ältester Vorfahre komme laut Stammbaum um 1600 aus der Gegend von Eger (Böhmen): „Jetzt kann ich mir alles erklären!“, wobei sie mich vermutlich mit den Hussiten in Beziehung bringen wollte, die um 1420-50 als politische und religiöse Unruhestifter weite Landstriche zwischen Brandenburg und Ungarn, Schlesien und Bayern verwüsteten. Es wird auch in einigen Unterlagen festgehalten, dass mein Großvater Johannes durch kirchenpolitische Äußerungen um 1890 im mecklenburgischen Landtag für größere Aufregungen sorgte, Vorgänge, die Fritz Reuter zum Anlass genommen hat, sie in einem seiner Werke zu schildern. Ich erinnere mich auch an die heftigen Auseinandersetzungen meines Vaters während der Nazizeit in Nackenheim mit Lehrerkollegen und dem Bürgermeister, die wegen der offenbar politischen Brisanz der Themen dazu führte, dass sich  meine  Eltern  im Beisein der Kinder anfangs auf Englisch, später, als 2 ihrer Kinder auf der Schule Englisch lernten, auf Französisch unterhielten.

Die Eisenstäbe auf der Bohle erinnern an afrikanische Nagelstatuen, die ich  viele Jahre auf Antik- und Flohmärkten bewundert hatte. Im Frühjahr 1996 erwarb ich eine nkisi in einem Antiquitätenladen, als ich mich während eines 3. Kurzurlaubs in Murnau (Staffelsee) aufhielt, um mich mit der Biografie und Kunst von Kandinsky und Gabriele Münter zu beschäftigen. Die 16 „Nägel“ (zugespitze Eisenstangen, objets trouvés) wurden an verschiedenen Stellen wahllos in die Bohle eingeschlagen. Sie sollen ähnlich wie bei den Nagelstatuen der schwarzafrikanischen Bevölkerung des unteren Kongos an Verträge erinnern. Die Statuen dienen dort auch als Vermittler zwischen übernatürlichen Kräften und den Menschen, und, wenn es darum geht, mit Hilfe des Zauberers und der Nägel zwischenmenschliche Beziehungen festzuhalten und zu dokumentieren, ganz besonders aber, um Verträge abzuschließen und  -- vor allem -- diese auch einzuhalten. Die Holzskulpturen sind allseitig überwiegend mit Nägeln, aber auch mit Schrauben und Blechresten aller Art bestückt, die so lange im Holz verbleiben, bis Verträge erfüllt sind. Die kleinen Statuen werden als nkisi (oder minkisi) die größeren (0,9 - 1,2 m) als nkonde bezeichnet, beide auch als Fetische benutzt. Demnach wäre die benagelte Holzbohle des besprochenen Materialbilds ein Nkonde. Nach TH. OBENGA, ehemals Generaldirektor des Centre international des civilisations Bantou in Gabun, seien die Nägel auch „Nägel der Verwünschung“: „Die wichtigste Aufgabe der Nkonde ist es, die Einhaltung der Gesetze des Landes zu sichern, den sozialen Frieden zu bewahren, Diebe zu enthüllen und anzuzeigen, sich an Missetätern zu rächen“ (Zitate aus L. MEYER: Schwarzafrika. Masken, Skulpturen, Schmuckstücke.- 224 S. (S. 141-148); (Terrail) Paris 1992), sie wirken allerdings nur, wenn bei den Ritualen ein Zauberer zugegen war.