|
Erläuterungen zum Bild „Robert Walser“
41 x 54,5 cm 22.7.2004
Nach
der Pensionierung 1997 begann ich mit großen Wanderungen im Umland von
Wiesbaden, zu Fuß im Durchschnitt 300 - 500 km im Monat, die ich heute auf 110-150
km reduziert habe. Zwischen 1999 und 2002 war ich auch mit Dexheimer Freunden
im Odenwald, in Rheinhessen und in der Pfalz unterwegs. In einer am 13.10.1997
in einem Antiquariat erstandenen Robert-Walser-Biografie einer französischen
Germanistin stellte ich etliche Gemeinsamkeiten mit dem mir zuvor kaum bekannten
Schriftsteller fest: „Der Spaziergang, zuerst ein einfaches Vergnügen oder die
Notwendigkeit eines Ortswechsels, wird zur Bedingung des geistigen Überlebens,
zum Kommunikationsmittel mit der Außenwelt und schließlich zum literarischen
Thema, zu einer Waffe gegen die Vereinsamung“ (C. SAUVAT: Vergessene Weiten.- st
2465, 173 S (S. 126); (Suhrkamp) Frankfurt a. M. 1995).
Nicht
nur Wanderungen in der Umgebung, auch Fahrten in die ehemaligen Arbeitsgebiete
und Heimatdörfer waren an der Tagesordnung, vor allem in die Nordpfalz, Oberrhein- und
Untermain-Ebene, Wetterau und Rhön, zum
Vogelsberg und zum Knüll, nach Waldeck
(Edersee) und ins Hochsauerland. Jedoch ging es mir nicht um literarische,
sondern um heimatkundliche, vorgeschichtliche und autobiografische Themen, aber auch darum, geeignete Fundstücke für
Materialbilder aufzusammeln, die dann im Keller und Speicher gelagert wurden.
Aus
einem solchen Fundus stammen die beiden objets trouvés, wobei es mir allerdings erst nach 7 Jahren Beschäftigung
mit dem Schriftsteller gelang, das Thema so auszugestalten, wie es jetzt im
Bild vorgeführt wird. Beim Studium der Literatur über Robert Walser entdeckte
ich in einer Buchhandlung im Frühjahr 2003 in einer groß angelegten, 12seitigen
Information des Suhrkamp-und des Insel-Verlags zu seinem 125. Geburtstag ein
mich besonders beeindruckendes Zitat von ihm: „Niemand ist berechtigt,
sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.“ Ich befand mich in
Bezug auf die Konstruktionen der Materialbilder genaugenommen in der gleichen
Situation. Wiederum wurde mir klar, niemand oder kaum jemand würde erkennen,
was ich mit beiden Objekten darstellen wollte, selbst dann nicht, wenn der
Titel hinzugefügt ist. Gemartert von Zweifeln, stand ich wie so oft vor den Fragen, ob die Betrachter,
vom Laien bis zum Adepten, in der Lage sind, sich solche Bilder selbst
erklären, Metaphern, Symbole oder Mythen verstehen oder in kunstgeschichtliche
Rahmen oder Prozesse einordnen können,
und ob Abbildungen solcher Materialbilder oder sogar diese selbst je über meine
Türschwelle transportiert werden sollten. Im Regelfalle fand ich in solchen
Zuständen Trost und Zustimmung bei Duchamp oder Beuys, gelegentlich auch bei
anderen, so zum Beispiel bei D. W. LIEDTKE: „Nur wer den Sinn von Buchstaben
und Worten kennt, kann ganze Sätze bilden. Der Kunsthistoriker Hans Sedlmayer
drückt das so aus: >Kunst ist Sprache, und eine Sprache ist da, um
verstanden zu werden<. Wer das nicht zulässt, behindert die
Weiterentwicklung des Bewusstseins“ (4seitiger Prospekt zur art open, world art
exhibition, 10.07 - 08.08.1999, Messe Essen).
In
seiner Untersuchung „Der Grenzgänger. Zur Psycho-Logik im Werk Robert Walsers“
(569 S. (S12); Ammann) Zürich 1986) zitiert C. SCHMIDT-HELLERAU aus „Moses von
Michelangelo“ von S. FREUD: „Aber warum soll die Absicht des Künstlers nicht
angebbar und in Worte zu fassen sein wie irgendeine andere Tatsache des
seelischen Lebens? Vielleicht, dass dies bei den großen Kunstwerken nicht ohne
Anwendung der Analyse gelingen wird. Das Werk selbst muss doch diese Analyse
ermöglichen, wenn es der auf uns wirksame Ausdruck der Absichten und Regungen
des Künstlers ist. Um diese Absicht zu erraten, muss ich doch vorerst den Sinn
und Inhalt des im Kunstwerk Dargestellten herausfinden, also es deuten
können“ (A. FREUD: S. Freud, Gesammelte Werke.- X, S.173-174; (London,
Frankfurt) 1940-1968).
Tief
beeindruckt bewundert der kunstbeflissene Laie die imponierende Gestalt von
Moses, die -- er erinnert sich noch an
den Kunstunterricht seiner Schule -- ein Volkserretter,
Stammesfürst, Prophet, Gesetzgeber und Religionsstifter gewesen sein soll, und
bemerkt völlig irritiert die beiden Hörner zwischen den Stirnlocken, denkt an
Hirschmythen, Teufel und „gehörnte“ Männer, bis er, sich um weitere Erkenntnisse
bemühend, erfährt: „Die Hörner, mit denen Moses gelegentlich dargestellt wird,
gehen auf eine falsche Lesart der lateinischen Bibel zurück (facies cornuta
>gehörnt<, statt facies coronata >strahlend<)“ (BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE,
Wiesbaden 1971). Die Irritation bleibt,
wenn er sich Michelangelo als ketzerischen
Vordenker (die Skulptur schuf er bereits 1513-16) im Kampf gegen die
herrschende katholische Kirche vorstellt: „In der evang. Theologie ist
der Teufel als mythische Gestalt Gegenstand der Entmythologisierung geworden.
Er gilt als Symbol für die Empörung gegen Gott, aus der sich die Welt nicht selbst
befreien kann“ (BROCKHAUS, s.o.), vielleicht sah der Bildhauer auch in Moses
einen um den rechten Glauben konkurrierenden Religionsstifter als Teufel, der
die Christenwelt peinigt.
Zurück
zur Sache, es geht um die Deutung: Bei dem vorliegenden Materialbild handelt es
sich zunächst um nichts anders als die Umsetzung einer fotografischen Aufnahme
des Untersuchungsrichters Kurt Giezendanner von Robert Walser, den man am
25.12.159 auf einem Weg im Umfeld der Anstalt Herisau, tot im Schnee liegend,
gefunden hatte (E. FRÖHLICH, P. HAMM (Hrsg.): Robert Walser. Leben und Werk in
Daten und Bildern.- it 264, 317 S. (S. 306, unt. Abb.); (Insel) Frankfurt a.M.
1980). Dazu schreibt ein anderer Biograf:
„ Der Tote lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, die rechte Hand auf der
Brust, den linken Arm gestreckt und die linke Hand etwas verkrallt. Den Kopf
leicht zur Seite geneigt und den Mund geöffnet, schien er die klare Winterluft
einzusaugen. Zwei Meter oberhalb des Kopfes lag der Hut“ (H. MÄCHLER: Das Leben
Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie.- st 321, 318 S. (S. 213);
(Suhrkamp) Frankfurt a. M. 1978). Betrachtet ein durchschnittlich gebildeter
Bürger das zu diskutierende Materialbild, kommt er m.E. über den Eindruck einer
unverständlichen, aber mehr oder weniger stark ästhetisch empfundenen
Konfiguration nicht hinaus. Ich kann mir kaum vorstellen, dass selbst
Fachleuten mehr gelingt, wobei man nur ungern wagt, an die katastrophalen
Fehlurteile und an die sich über Jahre und Jahrzehnte lang hinziehenden
Streitigkeiten europäischer Experten bei der Entdeckung und anschließenden
Bearbeitung der steinzeitlichen Felsbilder in der Höhle bei Altamira (1879,
Spanien), der Neandertaler-Knochen in der Höhle Feldhofer Kirche bei Düsseldorf (1856, Deutschland) und des „Eoanthropus“-Schädels
in Piltdown (1911, England) zu erinnern, und in diesem Zusammenhang verzichtet,
hier auf ähnliche Fälle in anderen Wissenschaften einzugehen.
Der
links unten angebrachte Gegenstand, Teil eines älteren Türverschlusses, hier
als „Hut“ benutzt, sollte eher nebenbei an Walsers typische Kopfbedeckung, die
er auf den Wanderungen
bei sich trug, erinnern, sondern -- stärker gewichtet -- mehr auf sein
kaum vorstellbar unstetes Leben hinzielen, nicht nur innerhalb der Länder
Schweiz und Deutschland, sondern auch innerhalb seiner Wohnorte. Eine anderes
Foto zeigt die „Spiegelgasse, eine von Walsers mindestens 17 Zürcher Adressen“
(J. AMANN: Robert Walser. Auf der Suche nach einem verlorenen Sohn.- SP 5212, 79 S. (S. 33);
(Piper) München, Zürich 1985).
Bei
dem mittleren Gegenstand, den ich Jahre
vor Abschluss des Bildes bei irgendeiner Wanderung am Wegrand oder auf einer
Müllhalde mitgenommen hatte, war mir sofort bewusst, dass ich ihn für die
zentrale Darstellung des toten Schriftstellers verwenden könnte. Ich musste
allerdings solange warten, bis der passende „Hut“ als Utensil, um die vielen
Orts- und Wohnungswechsel anzuzeigen, gefunden war. Das eiserne Mittelstück ist
stark angerostet und weist mit etlichen Teilen in verschiedene Richtungen,
erinnert also auf dem weißen Untergrund des Bildes an den beschriebenen und
fotografierten, im Schnee liegenden Robert Walser, Arme und Beine ausgestreckt. Entscheidend ist
mir auch die Feststellung, dass es sich
zwar offensichtlich um ein altes, vor Jahrzehnten in Landwirtschaft oder
Weinbau eingesetztes Gerät handelt, aber nur wenige die Bezeichnung kennen und/oder
wissen, wozu oder wem es diente. Ähnliches gilt
für Robert Walser: Früher wohl öfters und gern gelesen, von vielen
Kollegen hoch gelobt (Brod, Hesse, Kafka, Musil, St. Zweig, W. Benjamin,
Loerke, Polgar, Th. Mann), kann er heute eher als fast vergessen eingestuft, in
der schnelllebigen Bücher- und Medienwelt als Kuriosum angesehen werden, der
aber immer wieder einmal von fleißigen Germanisten vom Literaturspeicher
heruntergeholt wird. Für manche ist er allerdings „unsterblich“ geblieben:
„>Es ist für die Katz<, als wären nicht alle Menschen von jeher für sie
tätig gewesen. Alles, was geleistet wird, erhält sie zuerst; sie läßt's sich
schmecken, und nur was trotz ihr fortlebt, weiterwirkt, ist unsterblich“ (Zitat
von R. Walser in J. GREVEN: Robert Walser. Figur am Rande, in wechselndem Licht.-
tb11378, 155 S. (S. 147); (Fischer) Frankfurt a.M. 1992).
|