Erläuterungen zum Bild „Lichtspitze“

   41 x 54 cm     27.11.2001

Sockel des Altarbildes sollte das Materialbild „Lichtspitze sein“, von dessen Titel schon bei der Besprechung des „Selbstbildnisses 1990“ die Rede war, und der der Bezeichnung eines flachen Waldgebiets entlehnt ist, das sich etwa 2 km nördlich von Kirtorf (Oberhessen) in etwa 330 m Höhe zwischen der Straße nach Gleimenhain und der nach Arnshain erstreckt, dort,  wo meine damalige Freundin Bo und ich bei dem ersten Besuch und der Vorstellung meiner Heimat am Südrand der Waldabteilung 5 eine erste Rast einlegten. Der Tag ist nicht nur für mich, sondern zufällig auch für alle Unbeteiligten und Nachkommenden ein historisches Datum: Am gleichen Tag, nämlich am 26.4.1986, explodierte ein Reaktorblock des Atomkraftwerks in Tschernobyl und verbreitete über große Teile Europas seine strahlenden Substanzen.

Im Zentrum des Bildes ist ein rotbrauner Sandstein des im Untergrund anstehenden Buntsandsteins angebracht, den ich 14 Jahre später, am 12.3.2000, während einer Rundreise nach Oberhessen und Waldeck von dem ehemaligen Rastplatz mitnahm. Das breite Eisenband fand ich beim Umschichten des Komposthaufens meines Wiesbadener Gartens am 25.6.2001, zusammen mit einer mit Plastikspielsachen meiner Kinder gefüllten Aluminiumschüssel, die vermutlich  nach 1972 dort versteckt worden war. Das auf dem schwarzen Holzuntergrund aufgeschraubte Eisenband, das also auch aus dieser Zeit stammt, erstreckt sich gradlinig, wie mein Jahre zuvor geführtes Leben, bis zum Stein der „Lichtspitze, wird, sobald es den Stein erreicht, zur Seite abgelenkt, überbrückt ihn und verläuft,  jetzt etwas weniger schräg, weiter nach oben bis zum Rahmen der rechten Bild-Ecke.

Im unteren Bereich des Bildes ist in der Mitte des Bandes ein rostiger, konturloser Eisenstift angebracht, rechts und links davon folgen jeweils 6 in Reihen  auf dem schwarzen Holzuntergrund aufgeschraubte, langgestreckte, P-förmige Mauerhaken, die mit ihrem kopfähnlichen oberen Ende dem mittleren Eisenstift zugewandt sind. Es ist eine Anordnung, die an das etwa 4,5 x 9 m große Wandbild „Abendmahl“ erinnert,  das Leonardo da Vinci 1495-98 in dem Refektorium des Mailänder Klosters Santa Maria delle Grazie geschaffen hatte, und in dem er Jesus mit den 12 Aposteln, jeweils 6 zu seiner Seite, dargestellt hat. In dem Materialbild sollten es allerdings keine Apostel, Jünger oder Sendboten sein, die von der im Mittelpunkt des „Abendmahls“ befindlichen  Person unterwiesen werden, sondern umgekehrt Boten, die auf die zentrale Bildfigur zukommen und Botschaften mitbringen. Es sind Gestalten, denen ich mich in den letzten Jahr- zehnten (bis 2000)  in Werken und Biografien zugewandt hatte und die, vom linken zum rechten Rahmenrand benannt, wie folgt angeordnet sind: (linke Seite) Schopenhauer - Camus - Kafka - Goethe - R. Walser - Friedrich der Große; (rechte Seite) Blücher - Beethoven - Mozart - v. Gogh - P. Modersohn-Becker - Duchamp.

Die ungenutzten und verrosteten Mauerhaken fand ich in alten Weinbergsmauern, vor allem am 9. +1O.1.1998 und am 28.10.2001 bei Wanderungen in der Umgebung der Abtei Eibingen oberhalb von Rüdesheim. Sie erinnerten mich in ihrer reduzieren Form an die Gestalten in Kandinskys Ölbild „Improvisation 19“  (Städt. Galerie im Lenbachhaus München, 120 x 141,4 cm, 1911), über die P. Rapelli schreibt: „Hier wird offenbar ein Kampf zwischen Materie (dem Rot) und dem Geist (dem Blau) gezeigt. Die  5 Riesen weigern sich, daran teilzunehmen“ (P. RAPELLI: Wassily Kandinsky.- 144 S. (S.43); (DuMont) Köln 1999). Hier werden „Riesen“ erwähnt, die 1 Jahr später in dem Bühnenwerk  Kandinskys „Der gelbe Klang“ eine Rolle spielen (KANDINSKY/FRANZ MARC (Hrsg.): Der Blaue Reiter.-(Piper) München 1912); Neuauflage von K. LANKHEIT.- 364 S. (S.209-229), 1965). Mir scheint, dass dort die „grellgelben Riesen“  das Szenario des Bildes „Improvisation 19“ auf der Bühne darstellen, allerdings halten sich die Riesen des Bildes im  großflächig blauen Bereich auf und sind selbst größtenteils in Blau gehalten, nach Kandinsky die Farbe des Geistigen („Unendliche, Reine, Übersinnliche, Himmlische“) und nicht in Gelb, der Farbe des „Irdischen“. Deshalb vermute ich, dass sich die Riesen  eher dem  „blauen“ Geistigen zuwenden als  im Kampf zwischen Rot (Leben, Unruhe, Kraft) und Blau unbeteiligt sein zu wollen.

Die in dem vorliegenden Materialbild am oberen Ende des linken Rahmenteils angebrachten Mauerhaken- Gestalten stellen (von links nach rechts) meine Frau und meine Kinder Manfred, Johannes und Barbara dar, die aus der Ferne meinen Lebensweg von 1986 - 2001 mit kritischen Blicken verfolgen.